Schutt und Asche liegen herum und auch die an die Antike erinnernde Säule auf der Bühnenseite hat Ruß überzogen ihre glanzvollen Tage hinter sich. Inmitten dieser von Verwüstung gezeichneten schäbigen Behausung tritt Iphigenie (Michaela Kaspar) auf die Bühne des „TAG“- bei Euripides und Goethe ist sie Hohepriesterin der Artemis, bei Angelika Messner (Text und Regie) wird sie zur Prostituierten.
Und auch sonst hält sich die österreichische Autorin, Dramaturgin und Regisseurin vor allem im Kern nicht an die Vorlage. Oftmals als „Schlüsseltext der deutschen Klassik“ bezeichnet, lässt Goethe seine Figuren in „Iphigenie auf Tauris“ endgültig Schluss machen mit der schicksalsergebenen Unterwerfung unter die Götter und zeichnet ihren vom friedlichen Umgang miteinander bestimmten Weg in die Selbstbestimmung. Einen Weg, den auch „Iphi“, wie sie von ihrer Kollegin, der jungen Prostituierten Arka (Lisa Schrammel) bezeichnet wird, beschreiten möchte – jedoch ohne den an ihr, wie es heißt, von „Goethe und Konsorten“ auf den Leib geschriebenen Mythos.
Heilige oder Hure, Opfer oder Täterin – Messner macht Schluss mit derartigen Dualismen und zeigt eine Frau, die den Sockel mit der darunter gravierten Zuschreibung „gut, besser, Iphigenie“ verlassen möchte. Allerdings kann bei einem solchen Abstieg schon mal etwas abhandenkommen. „Haben Sie meine Menschlichkeit?“, fragt Iphigenie ins Publikum. „Ah, Sie haben sie längst unter den Teppich gekehrt!“, lautet die sich gleich selbst gegebene rethorische Antwort. Angesichts von anhaltenden Kriegen, globaler Ausbeutung und sozialen und geschlechtlichen Ungleichheiten will uns der von Goethe zurechtgeformte Schuh des Humanismus (nach wie vor) nicht so recht passen. Der „nach dem humanistischen Wolkenkuckucksheim-Gedudel“ (Gernot Plass, Künstlerischer Leiter des TAG, im Programmheft) agierende Goethesche Mensch hat bei Messner auf der Bühne ausgedient, doch in sein von anderen zurechtgezimmertes Schicksal will er sich dennoch nicht fügen.
Auch bei Goethe schlägt Iphigenie den Heiratsantrag von Thoas (im aktuellen Fall Jens Claßen als oberster Zuhälter, sozusagen als selbsternannter König der Unterwelt) aus. Zur Cindarella-Figur möchte sie sich hier wie dort nicht machen lassen. Die Rolle als Säule der Familie – konkret für ihren von den Rachegöttinnen verfolgten Bruder Orest (wunderbar in Mimik Emanuel Fellmer), will ihr ebenfalls nicht so recht stehen – auch wenn sie davon absieht Orest und seinen (in einer Liebesaffäre verbundenen) Freund Pylades (Andreas Gaida) im Auftrag Thoas zu opfern. Als Beschützerin der Prostituierten ist sie nicht Willens im Lande zu verweilen. Was also bleibt? Am Ende möchte/muss Frau selbst herausfinden, welchen Weg sie gehen will. Die Frage lautet nur: Kann/Darf sie das auch? Und so endet „Iphignie“ – in diesem Fall nicht nach Goethe – nach 70 Minuten trotz aller Schwere des Stoffes, nicht zuletzt ob der von Jon Sass musikalisch auf der Basstuba begleiteten beinahe gerapten Einlagen, wunderbar kurzweilig unterhaltend mit einem (oder eigentlich mehreren) Kracher(n).
Iphigenie
von Angelika Messner
Frei nach „Iphigenie auf Tauris“ von J.W. von Goethe
Termine: 13., 14., 16., 17. Dezember 2022, 17., 18. Jänner sowie 16. bis 18. Februar 2023 (Beginn jeweils 20.00 Uhr)
TAG -Theater an der Gumpendorfer Straße
Gumpendorfer Straße 67
1060 Wien
www.dastag.at
Titelbild: Iphigenie © Anna Stocher
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